„Auch Erwachsene haben ein Recht auf Bildung“
Positionsbestimmung zur Evangelischen Erwachsenenbildung
Die öffentlich geförderte Erwachsenenbildung in kirchlicher Trägerschaft hat in gewisser Hinsicht zwei Auftraggeber. Beiden gilt es gerecht zu werden. Sehen Sie ein Problem darin?
Was manche negativ als „Sandwichposition“ der Evangelischen Erwachsenenbildung sehen, betrachte ich eher positiv. Es gehört zur Geschichte und zum Selbstverständnis Evangelischer Erwachsenenbildung, dass sie einen doppelten Auftrag hat. Einerseits wird sie als freier Anbieter neben den Volkshochschulen und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen von den Ländern gefördert. Diese haben ein Interesse an einem flächendeckenden, öffentlich zugänglichen Weiterbildungsangebot. Sie wollen ein breites Spektrum abgedeckt wissen: von der Sprachförderung, über Gesundheitsbildung bis zur Persönlichkeitsbildung und beruflichen Weiterbildung. Auf der anderen Seite hat die Gesamtkirche das Interesse, Bildungsangebote für Erwachsene bereit zu halten, die sich für die gemeindliche Arbeit interessieren oder im Glauben stärken wollen. Beide Interessen dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Eine Kirche, die sich als Teil der Gesellschaft versteht, sollte immer beide Aspekte im Blick haben.
Wie bekommt man als evangelischer Bildungsanbieter beide Aspekte unter einen Hut?
Als Anbieter sollte man wissen, was und wann, für wen und in welchem Auftrag man tut. Also unter welchem Label man Bildung veranstaltet. Evangelische Erwachsenenbildung ist konzeptionell etwas anderes als Gemeindepädagogik. Evangelische Erwachsenenbildung sagt ganz klar: Missionarische Angebote sind nicht Teil öffentlicher Bildung. Trotzdem können diese als Bildungsveranstaltung in der Gemeinde ihren festen Platz haben. Zugleich können religiöse und theologische Bildungsangebote sehr wohl Bestandteil öffentlicher Bildung sein, wenn sie ergebnisoffen angelegt sind und eine diskursive Grundhaltung haben. Gerade im Bereich der interkulturellen und interreligiösen Bildung gibt es da viele Möglichkeiten.
Öffentlich geförderte Angebote der Evangelischen Erwachsenenbildung sollen offen sein für alle Menschen. Wird dieser Anspruch in der Praxis tatsächlich eingelöst?
Es ist in jedem Fall ein berechtigter Anspruch, offen für alle zu sein. Ob das, trotz öffentlicher Ausschreibung, immer gelingt, ist eine andere Sache. Einige Menschen vermuten bei Angeboten der „Evangelischen“ Erwachsenenbildung immer ein heimliches missionarisches Interesse. Dem Diskurs darüber begegnen wir sehr offen. In der Bildungsarbeit steht nicht die Bekenntnisorientierung im Vordergrund. Hier geht es darum, Deutungsperspektiven zu eröffnen. In einer pluralen Gesellschaft fällt es oft schwer sich zu orientieren. Jeder und jedem Einzelnen muss hier zugestanden werden, sich frei zu informieren und seine eigene Haltung zu entwickeln und zu begründen. Selbstverständlich darf Evangelische Erwachsenenbildung nicht verleugnen, dass sie den Menschen in seinem Gottesbezug wahrnimmt und das Leben auf den Grundlagen des Evangeliums deutet. Um bei allen Veranstaltungen wirklich Offenheit zu garantieren ist es aber wichtig, dass die Teilnehmenden nicht von einer Ideologie indoktriniert werden. Sie haben ein Recht darauf, dass alles was in Wissenschaft, Politik oder Theologie kontrovers ist, auch kontrovers dargestellt wird. Für den Bereich der politischen Bildung ist dieser Anspruch übrigens im „Beutelsbacher Konsenz“ beschrieben und so auch auf die Erwachsenenbildung übertragbar. Wenn Menschen die evangelische Kirche als Bildungsanbieter wählen, haben sie allerdings umgekehrt auch das Recht darauf, dass wir auf ihre Fragen des Glaubens und des religiösen Suchens ansprechbar sind. Das Wissen um genau diese Spannung und die Bereitschaft, sich mit divergierenden Wertvorstellungen und ethischen Maßstäben auseinander zu setzen, zeichnet unser Haltung und unsere Qualität als Evangelische Erwachsenenbildung aus.
Evangelische Erwachsenenbildung beruft sich auf ihre didaktische Eigenständigkeit. An welchen Leitprinzipien orientiert sie sich?
Erwachsenenbildung braucht einen weiten Bildungsbegriff. Hier steht nicht das schulisch-curiculare Lernen im Vordergrund, sondern die Interessen der Adressaten und Adressatinnen sowie die Prozessbegleitung der lernenden Gruppe. Zum Selbstverständnis von Erwachsenenbildung gehört die gesellschaftliche Bildungsteilhabe. Die Teilnehmenden erhalten die Möglichkeit, gesellschaftliche Vorgänge zu reflektieren und Handlungsoptionen zu entdecken. Wichtig, wie gesagt ist, dass Bildung in ihrer Intention immer ergebnisoffen ist. Die Arbeit der Erwachsenenbildung, auch der Familienbildung, folgt dem didaktischen Leitprinzip der Subjekt- und Lebensweltorientierung. Das bedeutet, dass jedes Bildungsangebot an den Teilnehmenden ausgerichtet wird und Lebensphasen sowie Sozialräume berücksichtigt. Subjektorientierung ist dabei weit mehr als eine pädagogische Methode. Die EKD Denkschrift „Kirche und Bildung“ beschreibt diese sehr treffend als „pädagogische Konsequenz des christlichen Verständnisses von Mensch und Wirklichkeit“. Alle Menschen sind als Subjekte in ihrer „Gottesebenbildlichkeit“ anzuerkennen und in ihrer Subjektwerdung zu unterstützen.
Muss evangelische Erwachsenenbildung marktfähiger sein? Sollte sich das Angebot stärker an der Nachfrage orientieren?
Aktuell nehmen wir wahr, dass zunehmend Angebote nachgefragt werden, deren Inhalte in der beruflichen Praxis umsetzbar, sozusagen unmittelbar „verwertbar“ sind. Teilnehmende wollen wissen: was bringt mir dieses Angebot, hilft es mir für meine berufliche Weiterentwicklung, ist es zertifiziert, bekomme ich für die Teilnahme eine anerkannte Bescheinigung? Wir nehmen diese Herausforderung an, hinterfragen sie aber kritisch. Meines Erachtens darf Evangelische Erwachsenenbildung nicht nur marktgängige Themen und erfolgsorientierte Formate platzieren. Ganz im Gegenteil: Erwachsenenbildung steht gerade auch für wenig marktgängige Themen (z.B.: ethische Fragestellungen, interreligiöse Bildung, politische Bildung, Zusammenleben von Kulturen). In allen Positionsschriften hat sich die Erwachsenenbildung in der EKHN gegen eine ausschließliche Effizienz- und Verwertungsorientierung von (Weiter)- Bildung ausgesprochen. Die Ökonomisierung hat in der Bildung längst Einzug gehalten, als Kirche müssen wir diesen Trend kritisch begleiten. Bildung darf nicht zur Privatsache erklärt und den Regeln des Marktes überlassen werden. Das Interesse von Arbeitgebern am Erlernen von „Schlüsselkompetenzen“ für die Beschäftigungs- und Arbeitsmarktfähigkeit ist nicht unser erstes Anliegen. Mit der Orientierung an einem auf Gott bezogenen Menschenbild, gilt es Impulse zu setzen, gegen die Verengung der Bildung. Weder die reine Nutzenorientierung noch die Reduktion auf den Wissenserwerb werden einem evangelischen Bildungsverständnis gerecht. Deshalb finden Sie in unseren Programmen vielfältige Angebote, die der Persönlichkeitsbildung dienen. Es geht dabei um Kompetenzen und um Wissen für die eigene Lebensgestaltung.
Will evangelische Erwachsenenbildung auch bildungsferne Zielgruppen zum Lernen anstiften?
Ich halte es für erforderlich, dass Evangelische Kirche sich bewusst an dem Diskurs über Bildungsgerechtigkeit und Bildungschancen für Erwachsene beteiligt. Die Erwachsenenbildung muss danach fragen, welche Milieus, welche Zielgruppen, erreicht sie, welche nicht. Sie darf sich den Herausforderung des Lebens in einer Migrationsgesellschaft, in einer älter werdenden Gesellschaft, in einer Gesellschaft, in der immer mehr Menschen von Harz IV leben, nicht verschließen. Gebraucht werden einerseits niederschwellige Angebote, aber auch Angebote, die sich speziell an ausgewählte Zielgruppen richten und Angebote, die dort stattfinden, wo Menschen leben. Als evangelische Bildungsträger sollten wir uns verstärkt mit Fragen der Migrationspädagogik, dem intergenerationellen Lernen und der Sozialraumanalyse beschäftigen. Aber für all diese Aufgaben braucht es auch gut ausgebildetes, professionelles Personal. Erwachsenenbildung, die gerade auch bildungsferne Zielgruppen ansprechen will, kann ihre Arbeit nicht alleine auf das Ehrenamt stützen.
Welche Rolle spielt das späte Lernen, das Lernen nach dem Beruf?
Eine große! Menschen werden heute älter und sind nach der Berufsphase aktiver. Reine „Betreuungsangebote“ greifen hier schon lange nicht mehr. Man differenziert heute zwischen dem dritten Lebensalter (60 bis 80 J.) und dem vierten Lebensalter (80 plus). Gerade Menschen des dritten Lebensalters sind sehr aktiv und haben vielfältige Interessen. Die aktive Beteiligung an Seniorenuniversitäten, an Freiwilligen Diensten, an selbstorganisiertem Lernen in der Gruppe hat in den letzten Jahren ungemein an Bedeutung gewonnen. Ältere Menschen haben außerdem einen reichen Wissens- und Erfahrungsschatz, den sie mit anderen teilen können.
Denken Sie, dass unsere Kirche die Bildungsinteressen von Erwachsenen noch genügend im Blick hat?
Es ist nicht nur ein Problem der Kirche, dass Bildungsdebatten oft nur in Bezug auf Schule, Ausbildung und berufliche Weiterbildung geführt werden und somit vor allem jüngere Menschen im Blick hat. Das ist auch in der Politik so. Wenn Sie schauen, wohin öffentliche Gelder im Bildungsbereich fließen, dann beantwortet sich die Frage von selbst. Erwachsenenbildung, insbesondere allgemeine Erwachsenenbildung ist hier nur eine „Randerscheinung.“ In Hessen wird über das Hessische Weiterbildungsgesetz nun auch die Hessencampus Initiative gestärkt. Das Kultusministerium setzt hiermit eindeutig den Schwerpunkt auf die berufliche Aus- und Weiterbildung. Selbst die EKD hat es fertig gebracht im letzten Herbst einen Bericht zum Thema Bildungsgerechtigkeit vorzulegen, in dem Erwachsenenbildung nicht vorkommt. Schade, denn nicht nur der demographische Wandel, sondern auch das zunehmende Bedürfnis von Menschen, sich bis ins hohe Lebensalter weiter zu bilden und sich neues Wissen anzueignen, sollte unseren Blick auf diese große Zielgruppe schärfen. Auch Erwachsene haben ein Recht auf Bildung, unabhängig von ihrer Herkunft, ihres Geschlechts oder ihres sozialen „Standes“. Alles muss gelernt, geübt und immer wieder aufs Neue überprüft oder aufgefrischt werden. Selbst die Identitätsbildung bleibt fragmentarisch und ist kein abgeschlossener Prozess. Identitätskrisen in der Mitte des Lebens sind keine Seltenheit. Teilnehmende, die Angebote der Evangelischen Erwachsenenbildung besuchen, kommen in der Regel freiwillig und mit unterschiedlichen Bedürfnissen. Weil sie neugierig sind, weil sie ihr Leben aktiv gestalten wollen, weil sie an gesellschaftlichen Veränderungen teilhaben wollen, weil sie in Ruhe nachdenken wollen, weil sie gemeinsam mit anderen lernen möchten. Kirche sollte all diese Bedürfnisse ernst nehmen und die Menschen anregen und aktivieren, sich mit Freude ein Leben lang zu bilden.
Heike Wilsdorf Zentrum Bildung der EKHN, Tel. 06151/6690-190, heike.wilsdorf.zb@ekhn-net.de